OLG Dresden – Az.: 4 U 1036/17 – Beschluss vom 12.12.2017
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.
2. Die Klägerin hat Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen. Sie sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufung in Erwägung ziehen.
3. Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19.12.2017 wird aufgehoben.
Gründe
Der Senat beabsichtigt, die zulässige Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch – einstimmig gefassten – Beschluss zurückzuweisen. Die zulässige Berufung der Klägerin bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.
Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Invaliditätsleistung aus der bei der Beklagten gehaltenen Unfallversicherung verneint.
Dabei kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, dass sie am 05.09.2010 in der behaupteten Weise gestürzt ist und dass sie in Folge dieses Geschehens den dargestellten dauerhaften Gesundheitsschaden erlitten hat. Dem Anspruch steht aber entgegen, dass die von der Klägerin angegebenen Beschwerden nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme nicht auf eine unfallbedingte organische Verletzung zurückzuführen sind, so dass die Beklagte das Vorliegen eines Ausschlusstatbestandes nach Ziffer 5.2.6. der dem Vertragsverhältnis zugrunde liegenden AUB 2000 bewiesen hat. Die bei der Klägerin nach dem behaupteten Sturzereignis aufgetretene retrograde Amnesie ist als eine krankhafte Störung anzusehen, die – wie hier zu ihren Gunsten unterstellt werden soll – zwar durch einen Unfall verursacht wurde, aber als Folge einer psychischen Reaktion im Sinne von Ziffer 5.2.6 der Versicherungsbedingungen aufgetreten ist und daher vom Versicherungsschutz ausgenommen bleibt. Der Ausschlussklausel in Ziffer 5.2.6., gegen deren Wirksamkeit im Rahmen einer Inhaltskontrolle keine Bedenken bestehen, kann ein verständiger Versicherungsnehmer entnehmen, dass der Unfallversicherungsschutz bei psychisch vermittelten Krankheitszuständen nicht gelten soll. Sie umfasst Gesundheitsschädigungen infolge psychischer Reaktionen, die sowohl auf Einwirkungen von außen über Schock, Schreck Angst und ähnliches erfolgen, als auch auf unfallbedingter Fehlverarbeitung beruhen. (vgl. BGH, Urt. v. 23.06.2004 – IV ZR 130/03 -, Urt. v. 29.9.2004, – IV ZR 233/03 -, zitiert nach Juris). Wodurch die psychische Reaktion verursacht wurde, ist für das Vorliegen des Ausschlusstatbestandes unerheblich. Die Klausel greift nur dann nicht ein, wenn eine organische Schädigung auf Grund eines Unfalls eingetreten ist, die sodann zu einem psychischen Leiden führt (vgl. BGH a.a.O., RdNr. 18, 19; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 09.09.2015, 9 U 53/14 m.w.N.). Die Klausel soll in dieser Auslegung dem Versicherer eine möglichst zuverlässige Tarifkalkulation ermöglichen und daher den Unfallversicherungsschutz auf solche Gesundheitsschäden beschränken, deren Entstehung objektiv fassbar ist (vgl. BGH a.a.O., RdNr. 28). Die Beweislast für eine „psychische Reaktion“ obliegt dabei dem Versicherer.
Soweit die Klägerin mit ihrer Berufung geltend macht, dass die unfallbedingte Ausschüttung von Stresshormonen die psychische Reaktion hervorgerufen haben soll, ist eine ergänzende Beweisaufnahme nicht geboten. Ob und inwieweit psychische Vorgänge im Körper eines Menschen mit bestimmten biochemischen Prozessen im Körper zusammenhängen, hat keine Auswirkungen auf das Verständnis des Ausschlusstatbestandes „psychische Reaktion“.
Nach Darstellung der Klägerin wurde eine für die Frage von Invaliditätsleistungen allein entscheidende retrograde Amnesie durch den Unfall vom 05.09.2010 verursacht. Der neurochirurgische Sachverständige Dr. K. hat eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Klägerin bestätigt, jedoch eine organische Ursache für diese Störung nachvollziehbar und mit überzeugender Begründung ausgeschlossen. Der Untersuchungsbefund des Nervensystems war normal, im Schädel-CT sei keine knöcherne Verletzung erkennbar und auch am Gehirn seien keine Verletzungsfolgen wie Narben oder Blutauflagerungen sichtbar gewesen. Im Ergebnis hat der Sachverständige wegen des bei der Klägerin konkret vorliegenden Verletzungsbildes und insbesondere wegen der auf einzelne Gedächtnisinhalte bezogenen Amnesie ohne sonstigen kognitiven Defizite eine Vorder- und Schläfenhirnverletzung auch in Form einer Contre-Coup Verletzung ausgeschlossen. Die bei der Klägerin vorliegende retrograde Amnesie ist dem Sachverständigen zufolge sehr wahrscheinlich als dissoziativer Gedächtnisverlust zu diagnostizieren. Der Sachverständige hat organische Ursachen der Gedächtnisstörung als sehr unwahrscheinlich ausgeschlossen. Zweifel an dieser Darstellung ergeben sich für den Senat nicht. Die Prellmarke am Hinterkopf und die weiteren, folgenlos ausgeheilten Verletzungen in Folge des behaupteten Unfallgeschehens kommen als organische Ursache nicht in Betracht. Auch eine neurologische Verletzung und/oder Erkrankung ist auszuschließen. Unter diesen Umständen verbleibt nur die Möglichkeit einer dissoziativen Gedächtnisstörung, bei der es sich um ein psychisches und nicht um ein hirnorganisches Krankheitsbild handelt. Die physikalische Einwirkung mechanischer Kräfte bei dem Unfall vom 05.09.2010 hat für die krankhafte Störung keine Rolle gespielt. Vielmehr handelt es sich um eine psychisch bedingte Unfallreaktion. Zweifel an diesen sachverständigen Feststellungen ergeben sich für den Senat nicht und werden von der Berufung auch nicht überzeugend begründet.
Entscheidend ist allein der Begriff der „psychischen Reaktion“ in den Versicherungsbedingungen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschlüsse v. 09.09.2015 und 14.10.2015, – 9 U 53/14 – juris). Die retrograde Amnesie stellt nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. K. eine psychische Störung als Reaktion auf den Unfall und nicht eine psychische Störung als Reaktion auf eine durch den Treppensturz erlittene physische Erkrankung dar. Der Unfallmechanismus war nach seiner Einschätzung nicht in der Lage, direkt einen relevanten Hirnschaden hervorzurufen, noch sei durch den nachgewiesenen Grad der äußeren Einwirkung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine irgendwie geartete körperliche Reaktion ausgelöst worden, die indirekt eine Veränderung der Hirnfunktion zur Folge hätte haben können. Ob und inwieweit psychische Vorgänge im Körper eines Menschen mit bestimmten biochemischen Prozessen im Körper zusammenhängen, hat keine Auswirkungen auf das Verständnis des Ausschlusstatbestandes „psychische Reaktion“ Die bei der Klägerin aufgetretene dissoziative Gedächtnisstörung ist insoweit vergleichbar mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die typischerweise als akute oder chronische psychische Störung nach einem extrem belastenden Ereignis, wie z.B. einem Unfall oder einer Katastrophe, die mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl.). Soweit die Klägerin unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme ihres mitbehandelnden Arztes Dr. P. darauf abstellt, dass die Stresshormone zu hirnorganischen Veränderungen führen, beschreibt dieser einen – wie dargestellt – der posttraumatischen Belastungsstörung entsprechenden Vorgang. Dieser ist aber nicht eine Folge einer sich aus dem Unfall ergebenden organischen Erkrankung, wie z.B. die von der Klägerin angeführte Schädelprellung. Aus dem vorliegenden Sachverständigengutachten und aus der Stellungnahme von Dr. P. ergibt sich gerade nicht, dass die Amnesie eine organische Erkrankung als Ursache hat (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 27. Oktober 2005 – 12 U 87/05 –, Rn. 10; OLG Frankfurt, Urteil vom 18. Dezember 2015 – 7 U 195/13 – juris).
Der Sturz von einer Treppe und zwar nur einige Treppenstufen hinunter, stellt sich auch nicht als so schwerwiegend dar, dass die hier auch eher ungewöhnliche psychische Folge des biografischen Gedächtnisverlustes in Anbetracht der Schwere des Unfalls oder der eingetretenen Körperschäden gleichsam verständlich oder nachvollziehbar ist und deshalb nicht allein durch ihre psychogene Natur erklärt werden kann (vgl. OLG Celle, Urteil vom 25. Mai 2015 – 8 U 199/14 –, Rn. 60, juris m.w.N.).
Auch die ergänzende Einholung eines psychotraumatologischen Gutachtens einschließlich der Durchführung neuropsychologischer Testverfahren ist daher nicht geboten. Mit einem solchen Gutachten ließe sich lediglich die genaue Diagnose und insbesondere die Frage klären, ob bei der Klägerin ein schweres Trauma und daraus folgend eine posttraumatische Belastungsstörung infolge des stattgehabten Unfallereignisses vorliegt, wie der Sachverständige bereits dargelegt hat. Eine vollständige wissenschaftliche Erklärung der biomechanischen Vorgänge, die zu einer psychischen Störung führen oder die Diagnosestellung, wie genau es zu dem teilweisen Gedächtnisverlust der Klägerin ist aber rechtlich nicht erforderlich, da es nach den Feststellungen des Sachverständigen keine organische Schädigung und keinen organischen Wirkungsmechanismus gab, der für die krankhafte Störung maßgeblich gewesen wäre. Entscheidend war vielmehr – wie auch bei anderen psychischen Reaktionen – eine bestimmte persönliche Disposition der Klägerin.
Der Senat rät daher zur Rücknahme der Berufung, die zwei Gerichtsgebühren spart.