BGH, Az: IVa ZR 240/86, Urteil vom 11.11.1987
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob der Kläger „bis auf weiteres“ von der Beklagten Leistungen aus einer Ende 1981 abgeschlossenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beanspruchen kann, der Besondere Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BB-BUZ) zugrundeliegen.
Die Beklagte hat das Begehren des Klägers abgelehnt, ihm seit 1. November 1982 bis auf weiteres die vertraglich zugesagten Leistungen zu gewähren, da er nicht berufsunfähig geworden sei. Der Kläger – ein ausgebildeter Tankwart, der ab Oktober 1975 selbständig eine gepachtete Autowaschanlage betrieb – könne einen derartigen Betrieb weiterführen, wenn er nur die ihm zumutbare Schutzkleidung anlege. Er habe seinen Betrieb schon im Mai 1982, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen, aufgegeben. Im übrigen stelle es eine vergleichbare Tätigkeit im Sinne ihrer Versicherungsbedingungen dar, daß er nunmehr eine Nachtbar betreibe.
Im Laufe des vom Kläger angestrengten Prozesses ist die Beklagte auch von dem Versicherungsvertrag zurückgetreten. Sie hat den Versicherungsvertrag ferner wegen arglistiger Täuschung angefochten, da sie jetzt erst erfahren habe, daß der Kläger bei der Antragstellung unzureichende Angaben zu Vorerkrankungen und deren Behandlung gemacht und ihr die Ablehnung eines früheren Versicherungsantrages verschwiegen habe.
Der Kläger hat vorgetragen, er habe die Waschstraße – abgesehen von der stundenweisen Beschäftigung von Aushilfskräften an Wochenenden – als Einmannbetrieb unter beträchtlichem körperlichem Einsatz geführt. Dabei habe er ein Jahreseinkommen von ca. 33.000 DM erzielt. Trotz steigender Einkünfte habe er die Waschstraße aufgeben müssen, da Wirbelsäulenbeschwerden und eine Arthrosis im Bereich einer Sprunggelenksfraktur rechts ihm körperliches Arbeiten in Nässe und Kälte und Heben und Tragen schwerer Gegenstände nicht mehr erlaubt hätten. Er könne weder länger als Tankwart noch als Autowäscher noch in einem ähnlichen Beruf tätig werden.
Zum Betreiben einer Nachtbar fehlten ihm die nötigen Erfahrungen. Er benötige deshalb einen Geschäftsführer. Sein nunmehriges Jahreseinkommen betrage 6.480 DM. Als Inhaber einer Nachtbar übe er demnach keine vergleichbare Tätigkeit im Sinne von § 2 BB-BUZ aus.
Seit 1. November 1983 bezieht der Kläger von der Bundesanstalt für Angestellte eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit. Seine MdE ist in einem Bescheid des Versorgungsamtes vom 3. Februar 1984 mit 50% anerkannt worden.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, da der Kläger nicht berufsunfähig geworden sei; auch sei die Beklagte wirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten.
Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner Revision verfolgt er sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.
1. Gemäß § 2 Nr. 1 BB-BUZ (wörtlich übereinstimmend mit § 2 Nr. 1 der in VerBAV 1975, 2 veröffentlichten Musterbedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung) ist der Versicherte berufsunfähig, wenn er „infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich dauernd außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.“ a) Das Berufungsgericht hat eine weitere Aufklärung nicht für erforderlich gehalten, ob der Kläger weiterhin eine Waschstraße im bisherigen Umfang unter eigenem körperlichen Einsatz bei Anlegung der ihm zumutbaren Schutzkleidung betreiben könnte. Da es diese Frage unbeantwortet gelassen hat, ist im Revisionsverfahren zugunsten des Klägers davon auszugehen, daß er einer Erwerbstätigkeit, so wie er sie bis zum Zeitpunkt der geltend gemachten Berufsunfähigkeit tatsächlich ausgeübt hat, nicht mehr nachgehen kann.
b) Das Berufungsgericht hat auch weitere Überlegungen und damit weitere Feststellungen für entbehrlich angesehen, ob die unternehmerischen Tätigkeiten „vergleichbar“ seien, die ein Waschstraßeninhaber einerseits und ein Nachtbarbetreiber andererseits entfalten. Im Revisionsverfahren ist demnach vom Fehlen einer Vergleichbarkeit im Sinne der in § 2 Nr. 1 BB-BUZ genannten anderen Tätigkeit auszugehen.
c) Das Berufungsgericht ist der Ansicht, selbst wenn der Kläger wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden eine Waschstraße nicht in der bisherigen Art und Weise, mit dem behaupteten körperlichen Eigeneinsatz, weiterbetreiben könne, sei nicht ersichtlich, daß er nicht weiterhin unter Ausnutzung seiner Ausbildung und Erfahrung im Tankstellen- und Waschstraßengewerbe tätig sein könnte. Dabei sei nicht nur daran zu denken, daß er in einem größeren Tankstellen- und Waschstraßenbetrieb etwa als angestellter Kassierer tätig sein könnte. Er könnte auch selbständig bleiben, seinen Betrieb dabei anders einrichten und für anfallende körperliche Arbeiten fremde Kräfte anstellen. Es sei letztlich eine Frage der Organisation und der Arbeitsteilung, „wie der Kläger im Rahmen seines bisherigen Berufes als Tankwart und Waschstraßenbetreiber, also in der alten Branche bleibend“ seinen Betrieb einrichte.
2. Diese Erwägungen sind nicht geeignet, das vom Berufungsgericht gefundene Ergebnis zu tragen, der Kläger sei nicht berufsunfähig geworden.
a) Bei der Prüfung, ob der Kläger berufsunfähig im Sinne der vereinbarten Versicherungsbedingungen geworden ist, ist es nicht ohne Bedeutung, welchen Umfang und welche Betriebsorganisation das vom Kläger geführte Unternehmen hatte. Der Kläger hatte den Betrieb nur gepachtet; es handelte sich im wesentlichen um einen Einmannbetrieb, in dem der Kläger selbst fast ausschließlich die anfallenden Arbeiten erledigte. Diese Umstände spielen eine Rolle sowohl für die Frage zumutbarer Umorganisationen des Betriebes zur Ermöglichung eines Tätigbleibens als beruflich Selbständiger wie für die Frage der Verweisbarkeit auf eine Erwerbstätigkeit in abhängiger Stellung.
b) Die Ausführungen des Berufungsgerichts könnten darauf hindeuten, daß es beispielsweise eine Tätigkeit des Klägers als Tankstellenkassierer im Angestelltenverhältnis als Vergleichsberuf ansieht, auf den sich der Kläger verweisen lassen muß.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 19. November 1985 – IVa ZR 23/84 – VersR 1986, 278 unter 4. auch bereits klargestellt, daß für früher beruflich Selbständige die Aufnahme einer Tätigkeit in abhängiger Stellung nicht generell unzumutbar ist. Es bedarf jedoch stets einer auf den Einzelfall abgestellten Wertung, ob mit der neuen Tätigkeit nicht ein spürbarer sozialer Abstieg („und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht“) verbunden ist, den der Versicherte nach § 2 Nr. 1 BB-BUZ nicht hinzunehmen braucht. Nicht der einzige, aber ein nicht zu vernachlässigender Bewertungsfaktor ist hierbei die Verdienstmöglichkeit. Zu ihr wie zu der allgemeinen sozialen Wertschätzung der bisherigen Stellung und der angesonnenen Stellung sind bislang tatrichterliche Feststellungen nicht erfolgt. Die Beklagte hat den Kläger bisher auch nicht darauf verwiesen, er solle künftig im Tankstellen- und Waschstraßengewerbe in abhängiger Stellung tätig werden.
c) Ebensowenig hat sie dem Kläger eine Betriebsumorganisation angesonnen, die das Berufungsgericht erörtert.
Der Kläger hatte unter Beweisantritt vorgetragen, daß er alle im seinerzeit gepachteten Betrieb anfallenden Arbeiten im wesentlichen selbst erledigt hat. Dieser Umstand und sein ebenfalls unter Beweis gestelltes Einkommen in der Zeit seiner Betriebsführung machten deutlich, daß ohne Betriebsausweitung die vom Berufungsgericht erörterte Betriebsumorganisation als Verweisungsmöglichkeit zumindest zweifelhaft erscheint. Eine Betriebsausweitung setzt nämlich neben möglicherweise erforderlichem Einverständnis des Verpächters wie etwaigem eigenem Kapitaleinsatz und gegebenenfalls räumlichen Ausdehnungsmöglichkeiten jedenfalls eine entsprechende Nachfrage auf der Kundenseite voraus, die nicht ohne weiteres unterstellt werden kann. Ohne Betriebsausweitung wäre dem Kläger kaum ein Betätigungsfeld im Betrieb verblieben, das zur Verneinung von Berufungsunfähigkeit gemäß den Versicherungsbedingungen der Beklagten führen könnte; bei Entlohnung fremder Kräfte für alle anfallenden körperlichen Arbeiten erscheint auch kein Einkommen gesichert, das dem Kläger die Bestreitung seines Lebensbedarfes nur annähernd im bisherigen Umfang erlaubt hätte. Die Beklagte mag also gute, im Tatsächlichen liegende Gründe dafür haben, daß sie eine „Betriebsumorganisation“ nicht zur Sprache gebracht hat.
In einem Prozeß zwischen Partnern eines privatrechtlichen Versicherungsverhältnisses ist es Sache der Parteien, durch ihren Sachvortrag den Streitstoff abzustecken, über den das angerufene Zivilgericht zu entscheiden hat. In Fällen der vorliegenden Art hat der Versicherungsnehmer, soll seine Klage schlüssig sein, allerdings nicht nur darzulegen, daß er seinen Beruf in seiner bisherigen Ausgestaltung nicht mehr dauernd ausüben kann, sondern darüber hinaus auch vorzutragen, daß er auch keine anderen Tätigkeiten mehr verrichten kann, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung von ihm ausgeübt werden könnten und die seiner bisherigen Lebensstellung entsprächen. Für letzteres genügt zunächst ein summarischer Vortrag. Sache des beklagten Versicherers ist es dann gegebenenfalls, die nach seiner Ansicht bestehenden Möglichkeiten eines solchen Vergleichsberufes aufzuzeigen. Der Versicherungsnehmer, der die Beweislast für die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit trägt, muß das widerlegen.
Sachverhalte, die noch nicht Gegenstand des Parteivorbringens gewesen sind, darf das Gericht nicht zur Grundlage seiner Entscheidung machen. Hält es eine Ergänzung des Sachvortrages für erforderlich, so hat es dies gemäß § 139 ZPO mit den Parteien zu erörtern.
Schon aus den vorgenannten Gründen kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben.
d) Zu Recht vermißt die Revision überdies Feststellungen des Berufungsgerichts dazu, wie der Kläger seinen angepachteten Einmannbetrieb derart hätte „umorganisieren“ können, daß ihm ein Arbeitsfeld und ein Einkommen verblieben wären, die den Eintritt von Berufsunfähigkeit nach den vereinbarten Versicherungsbedingungen auch im Bereich der sog. „Vergleichsberufe“ ausgeschlossen hätten oder zweifelhaft hätten erscheinen lassen.
3. Für das weitere Verfahren gibt der Senat folgende Hinweise:
a) Einer Klärung wird es zunächst bedürfen, welche Arbeiten im Tankstellen-/Waschstraßengewerbebereich der Kläger mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand weiterhin ausführen kann.
b) Falls die Beklagte nunmehr nach der Zurückverweisung geltend machen will, der Kläger könne (unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustandes) zumutbar in abhängiger Stellung arbeiten oder arbeitsteilig einen größeren Betrieb führen als ehedem, mit Einsatz fremder Arbeitskräfte für Arbeiten, die er nicht mehr erledigen könne, ist ihr dies aus Rechtsgründen nicht verwehrt.
Da der Kläger bislang einen Waschstraßenbetrieb nur gepachtet hatte, kann die Beklagte ihn aber nicht ohne weiteres darauf verweisen, er könne in den Sparten Tankstellen-/Waschstraßengewerbe einen eigenen Betrieb aufbauen, der die arbeitsteilige Beschäftigung mehrerer Personen erlaube. In erster Linie kommen weiterhin nur Betriebsanpachtungen in Betracht. Anderenfalls wäre es Sache der Beklagten aufzuzeigen, daß der Aufbau eines geeigneten eigenen Betriebes von dem Kläger keinen unzumutbaren Aufwand verlangt, insbesondere keinen nennenswert höheren Kapitaleinsatz, als ihn der gepachtete Betrieb erforderte. Der Kläger hätte dies gegebenenfalls zu widerlegen.
Die Verweisung des Klägers auf Betriebsanpachtungen ihrerseits hat zur Voraussetzung, daß Pachtobjekte des in Frage kommenden Typs überhaupt existieren. Dagegen kann es keine Rolle bei der Feststellung der Berufsunfähigkeit des Klägers spielen, welches Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage für in Betracht kommende Pachtobjekte besteht. Insoweit ist die Lage für einen selbständig ein Gewerbe treibenden VN keine andere als für den in abhängiger Stellung Berufstätigen. Daß dessen Berufsunfähigkeit ohne Berücksichtigung der Lage auf dem Arbeitsmarkt festzustellen ist, hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 19. November 1985 – IVa ZR 23/84 – VersR 1986, 278 – ausgesprochen.
c) Sollte das Berufungsgericht zu der Prüfung gelangen, ob die Beklagte wirksam angefochten hat oder zurückgetreten ist, so wird zu berücksichtigen sein, daß der Kläger vorgetragen und unter Beweis gestellt hat, er habe den Versicherungsagenten der Beklagten, der das Antragsformular ausgefüllt habe, wahrheitsgemäß und vollständig sowohl über den geforderten Risikoausschluß in einer beantragten Vorversicherung wie über Vorerkrankungen informiert. Auch wenn es sich nicht um einen Angestellten der Beklagten, sondern um einen ihrer Vermittlungsagenten gehandelt haben sollte, so hat sich die Beklagte die Kenntnis ihres rechtsgeschäftlichen Stellvertreters (§ 43 Nr. 1 VVG) zurechnen zu lassen mit der Folge, daß sie in Kenntnis der mitgeteilten Umstände und ihrer unterbliebenen Aufnahme in das Antragsformular den Versicherungsvertrag geschlossen hätte, § 166 Abs. 1 BGB.
Der Kläger hätte in diesem Fall seine Anzeigenobliegenheit ordnungsgemäß erfüllt, auch wenn der Empfangsbevollmächtigte der Beklagten die entgegengenommenen Mitteilungen nicht – wie geboten – weitergegeben haben sollte. Die Beklagte könnte dem Kläger nicht mit Erfolg entgegenhalten, daß sie sich gemäß § 44 VVG nicht als zu ihrer Kenntnis gelangt zurechnen lassen müsse, was ihrem Vermittlungsagenten bei der Erstellung des Versicherungsantrages zu früher beantragten Vorversicherungen und zu Vorerkrankungen mitgeteilt worden sei (so auch Prölss/Martin, VVG, 23. Aufl., § 44 Anm. 2; Bruck-Möller, VVG, 8. Aufl., § 43 Anm. 19bb, Seite 981, ab dem 3. Absatz in Verbindung mit Anm. 18aa, Seite 980, vorletzter Absatz; zumindest im Ergebnis auch RGZ 147, 186, 189f).
Daß § 44 VVG nur die Frage der Wissenszurechnung für denjenigen Teilausschnitt der Tätigkeit eines Vermittlungsagenten regelt, der nicht zu seinem Tätigwerden als Stellvertreter des Versicherers – hier gemäß § 43 Nr. 1 VVG – zählt, wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt.
Ausweislich der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 11. Legislaturperiode II. Session, 2. Anlagenband, 1906, Aktenstück Nr. 22, Seite 1212ff.) fand der Gesetzgeber stark kontroverse Ansichten zu dem Fragenbereich vor, innerhalb welcher Grenzen Versicherungsagenten im rechtsgeschäftlichen Verkehr mit dritten Personen als Vertreter der Versicherer zu gelten haben, und wollte hierzu eine gesetzliche Regelung treffen.
So heißt es wörtlich (aaO S. 1238):
„Was die für den Entwurf allein in Betracht kommende Frage betrifft, welche Stellung die Versicherungsagenten im Verkehr mit Dritten einnehmen, so gehen hier die Anschauungen der Versicherer und der ihnen gegenüberstehenden Kreise erheblich auseinander. Während diese Kreise vielfach die Auffassung hegen, daß den Versicherungsagenten im weitesten Umfange die Vertretung der Versicherer zukomme und daß demgemäß ihre Handlungen und Unterlassungen von selbst den Versicherern zuzurechnen seien, suchen die letzteren umgekehrt eine Verantwortlichkeit für ihre Agenten tunlichst abzulehnen, indem sie davon ausgehen, daß der Agent als selbständiger Vermittler zwischen den Beteiligten und nur in dieser Eigenschaft um seine Dienste angegangen werde, daß folgeweise die Erklärungen und Rechtshandlungen des Agenten den Versicherer überhaupt nicht binden. Auch in der Wissenschaft ist noch keine Übereinstimmung der Meinungen erzielt worden; doch geht die überwiegende Ansicht dahin, daß die Versicherer eine allgemeine Verantwortlichkeit für ihre Agenten nicht treffe, daß sie vielmehr die Erklärungen und Handlungen dieser Agenten nur insoweit gegen sich gelten lassen müssen, als die einzelnen den Agenten übertragenen Aufgaben ein solches Ergebnis unabweislich machen. Von der Rechtsprechung wird im allgemeinen diese Auffassung geteilt, und sie liegt auch den Vorschriften des Entwurfs zugrunde.
…… Die Versicherungsunternehmungen bedürfen, um ihrem Geschäftsbetriebe die erforderliche Ausdehnung zu geben, der Mitwirkung zahlreicher, räumlich weit zerstreuter Hilfspersonen, die vielfach mit den Unternehmungen nur in loser Verbindung stehen; das Verhalten solcher Personen kann nicht ohne weiteres dem Verhalten der leitenden Organe der Unternehmungen gleichgeachtet werden. Auf der anderen Seite kommt in Betracht, daß die Versicherer es sind, welche die Agenten zur Vermittelung des Verkehrs mit dem Publikum bestellen, und daß dieses darauf angewiesen ist, sich an die ihm bezeichneten Mittelpersonen zu wenden. Hieraus folgt, daß die Agenten jedenfalls mit demjenigen Maße von Befugnissen zu versehen sind, ohne welches der Zweck, dem ihre Bestellung dient, sich nicht oder doch nicht in genügender Weise erreichen läßt, und daß dem Versicherer die Einschränkung solcher Befugnisse mit Wirksamkeit gegen einen Dritten insoweit nicht gestattet werden darf, als damit eine unbillige Erschwerung der Lage des Dritten verbunden sein würde. Dem entspricht die Regelung, wie sie der Entwurf vorschlägt.
…… Nach § 43 Nr. 1 gilt ein Agent, auch wenn er nur mit der Vermittlung von Versicherungsgeschäften betraut ist, als bevollmächtigt, in dem Versicherungszweige, für den er bestellt ist, Anträge auf Schließung, Verlängerung oder Änderung eines Versicherungsvertrages sowie den Widerruf solcher Anträge entgegenzunehmen. Die hiermit bezeichnete Obliegenheit gehört zu den wesentlichen Aufgaben eines jeden Versicherungsagenten. Sie erstreckt sich zugleich auf die Entgegennahme der von dem Antragsteller bei dem Abschluß des Vertrages zu bewirkenden Anzeige der Gefahrumstände.“ Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß es hier nicht einer analogen Anwendung des § 43 Nr. 2 VVG bedarf (so aber Bruck-Möller aaO). Die Entgegennahme eines Antrages auf Abschluß eines Versicherungsvertrages und die Kenntnisnahme der von dem Antragsteller bei dieser Gelegenheit abgegebenen – mündlichen – Erklärungen zu den ihm im Antragsformular des Versicherers gestellten Fragen stellen einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der keine juristische Aufspaltung erlaubt. Bei der Entgegennahme eines Antrages auf Abschluß eines Versicherungsvertrages steht dem Antragsteller – auf alleinige Veranlassung des Versicherers – der empfangsbevollmächtigte Vermittlungsagent bildlich gesprochen als das Auge und Ohr des Versicherers gegenüber. Was ihm mit Bezug auf die Antragstellung gesagt und vorgelegt wird, ist dem Versicherer gesagt und vorgelegt worden.
Anlaß zu Mißverständnissen über die Reichweite des § 44 des Regierungsentwurfes, der als § 44 mit unverändertem Wortlaut in das VVG übernommen worden ist, mögen folgende weiteren Erläuterungen in der Entwurfsbegründung gegeben haben (aaO Seite 1240):
„Im § 44 ist demgemäß bestimmt, daß, soweit nach den Vorschriften des Entwurfes die Kenntnis des Versicherers von Erheblichkeit ist, die Kenntnis eines nur mit der Vermittlung von Versicherungsgeschäften betrauten Agenten der Kenntnis des Versicherers nicht gleichsteht. ……
Übrigens wird durch die Art, wie der § 44 und die anderen hierher gehörigen Vorschriften des Entwurfs die Stellung des Vermittlungsagenten gestaltet haben, nicht der Frage vorgegriffen, inwiefern der Versicherungsnehmer, um Rechtsnachteile von sich abzuwenden, sich auf das Verhalten des Agenten berufen kann…. So können die Umstände des Falles es rechtfertigen, den Versicherungsnehmer in bezug auf eine nicht ordnungsgemäß gemachte Anzeige als entschuldigt anzusehen, wenn er den Fragebogen unter der Anleitung des Agenten ausfüllt oder diesem die Ausfüllung überläßt, oder wenn der Agent eine an ihn von dem Versicherungsnehmer erstattete Anzeige ohne Widerspruch entgegennimmt, obwohl ihm die Befugnis zur Entgegennahme von Anzeigen der betreffenden Art entzogen ist.“
Erwartungsgemäß kam die Reichweite des § 44 in den Beratungen der VIII. Kommission zur Sprache. In ihrem Bericht (Verhandlungen des Reichstages XII. Legislaturperiode, I. Session, Band 242, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Seite 2016) ist daraufhin folgende Klar- und Richtigstellung gegeben worden:
„Hierzu gab ein Vertreter der Regierung auf Anfrage hin die Erläuterung, daß § 44 sich nur auf die Kenntnis des Agenten beziehe, die er ohne Anzeige oder Erklärung (im Sinne des § 43) erlangt habe.“
Anderenfalls hätte § 44 VVG für einen Teilbereich der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung von Versicherern den in § 166 Abs. 1 BGB allgemein für das Zivilrecht normierten Grundsatz der Kenntniszurechnung außer Kraft gesetzt. Gerade dies ist nicht zum Ausdruck gebracht worden. Es ließe sich auch schwer mit dem Umstand vereinbaren, daß im Gesetzgebungsverfahren gerade die Schutzwürdigkeit derjenigen Gruppe von Versicherungsnehmern gesehen und betont worden ist, der die Versicherer für einen beabsichtigten Vertragsabschluß als allein in Betracht kommende Kontaktperson einen zu ihrer passiven Stellvertretung bevollmächtigten Versicherungsagenten gegenüberstellen. Er ist gewolltermaßen bei der Antragstellung der ausschließliche Empfänger von antragsbezogenen Erklärungen des künftigen Versicherungsnehmers.
Wissen des zur passiven Stellvertretung (nämlich zur Entgegennahme von Erklärungen) ermächtigten Versicherungsagenten, das er in Ausübung der Stellvertretung erlangt, schließt es aus, daß der rechtsgeschäftlich vertretene Versicherer unter Berufung auf seine Unkenntnis bezüglich solcher Umstände, von denen sein Stellvertreter auf die genannte Weise Kenntnis erlangt hat, Rechtsfolgen für seine anschließend erklärte Vertragsannahme geltend machen könnte. Mit der bloßen Verwendung eines Antragsformulars ist auch keine erkennbare Beschränkung der Empfangsvollmacht auf schriftliche Erklärungen erfolgt, die der Versicherer gemäß § 47 VVG Dritten entgegenhalten dürfte.
Soweit sich aus der Senatsentscheidung vom 1. Dezember 1982 – IVa ZR 70/81 – VersR 1983, 237 – zur Reichweite des § 44 VVG etwas anderes entnehmen lassen sollte, hält der Senat daran nicht fest.